Geistlichen Missbrauch verhindern
Die Kirchenkrise führt nicht nur zu einem Infragestellen der Institution Kirche, sondern auch zu einer tiefen Erschütterung des persönlichen Glaubens. Darauf hat Professor Dr. Julia Knop bei einer Fachtagung zum Thema „Spirituelle Autonomie“ am vergangenen Freitag und Samstag, 2. und 3. Dezember, im Haus am Dom in Frankfurt hingewiesen. „Einer Kirche, der man nicht mehr traut, dass sie es ernst meint mit Umkehr und Erneuerung, glaubt man irgendwann gar nicht nichts mehr.“ Das betreffe nicht nur Ämter und Strukturen, Recht und Liturgie. „Das betrifft vor allem deren Niederschlag in meinem eigenen Denken, Glauben und Beten“, sagte die Erfurter Theologin. Dass die kirchliche Lehre durch das komplexe Versagen und den offenkundigen Zusammenbruch der Kirche gerade ihre Autorität, ihren Wahrheitsanspruch, kirchliche Repräsentanten ihre Glaubwürdigkeit und kirchliche Gebete und Gottesdienste ihre Heiligkeit verlören, sei für viele kirchlich-geprägte Menschen eine dramatische Verlusterfahrung, die zu Leerstellen im eigenen Glauben führe. Gläubige seien nun gezwungen, diese Leerstellen durch eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben wieder zu füllen und eine neue Souveränität im Glauben zu entwickeln. „Souveränität im Glauben zu entwickeln, ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist ein Kraftakt.“
Klerikalismus, Sexismus und Autoritätshörigkeit im System Kirche
Zu dieser Souveränität im Glauben gehöre auch ein kritisches Bewusstsein für die Kirchlichkeit des eigenen Glaubens. „Nicht nur Personen prägen unseren Glauben. Auch Konzepte. Auch Seh- und Hörgewohnheiten. Auch Ämter und Strukturen.“ Sie prägten die eigene Wahrnehmung und das eigene Urteilsvermögen, das eigene Gottesbild und das eigene Gottesverhältnis so sehr, dass strukturelle Ungerechtigkeiten, Respektlosigkeiten, Einseitiges und Abwegiges lange Zeit gar nicht wahrgenommen würden. Souverän zu glauben, bedeute, wahrzunehmen, wie viel Klerikalismus, Sexismus und Autoritätshörigkeit im System Kirche stecke. Es bedeute, sich abzugrenzen von dem, was manipulativ, beengend und bestimmend erlebt werde. Und es bedeute auch, den Freimut zu haben, den Glauben in eigene Worte und Sprache zu fassen, die Deutungshoheit über den Glauben nicht der Institution allein zu überlassen und Respekt für seine Glaubenssicht einzufordern. „Der Verlust kann auch auf heilsame Weise ernüchtern und desillusionieren – und dazu ermächtigen, anders zu glauben, anders Kirche zu werden.“
Bei der Tagung beschäftigten sich etwa 170 Personen mit den Fragen von spirituellem Missbrauch und spiritueller Autonomie. Die Veranstaltung wurde vom Bistum Limburg, dem „Zentrum für christliche Meditation und Spiritualität“ in Frankfurt und der Einrichtung “RUACH – bildung der Ordensleute“ organisiert und ist zugleich Teil des diözesanen Aufarbeitungsprojektes gegen sexuellen Missbrauch im Bistum Limburg. Im Zuge der Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche ist auch das Bewusstsein für spirituellen Missbrauch gestiegen. Darunter versteht man die Instrumentalisierung von Spiritualität im geistlichen und seelsorglichen Kontext, um Menschen beispielsweise in ihrem Handeln einzuschränken, unter Druck zu setzen, sie gefügig zu machen, um eigene Interessen durchzusetzen oder übergriffiges Verhalten zu rechtfertigen.
Gott will Freiheit der Gläubigen
„Liebe ist nie ein Kind der Beherrschung, sondern der Freiheit“, betonte Professor Dr. Joachim Negel. Der Theologe aus Fribourg in der Schweiz näherte sich dem Thema aus geistlich-theologischer Perspektive und entwickelte ausgehend von der Dreifaltigkeitslehre ein dialogisches Autonomie-Verständnis. „Gott ist kein Ein-Mann-Betrieb, sondern er ist ein Relationsgefüge“, machte Negel zunächst klar. Die wechselseitigen Beziehungen der drei göttlichen Personen – Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist – spannten einen Raum auf, der von gegenseitigem Respekt, Liebe und Freiheit gekennzeichnet sei. Der Mensch als Teil der göttlichen Schöpfung sei in dieses Beziehungsgefüge hineingenommen. „Wenn tatsächlich gilt, dass Gott Liebe ist, dann gilt auch, dass Gott die Freiheit derer will, die an ihn glauben“, sagte Negel. Daraus ergäben sich ethische Konsequenzen für das Miteinander: So gelte es, sich am Wachstum und der Freiheit des anderen zu freuen. Die Unterschiede unter den Menschen müssten wahrgenommen werden, ohne sie vermischen und trennen zu wollen. Eigene Standpunkte seien nicht allgemeingültig.
Große Macht über begleitete Menschen
„Die Abhängigkeit des Menschen schafft eine enorme Abhängigkeit und Macht beim Gegenüber“, betonte Dr. Ingrid Kamps aus Aachen. In ihrem Vortrag warf Kamps einen Blick auf das Tagungsthema aus entwicklungspsychologischer und psychotherapeutischer Sicht. Aus ihrer praktischen Erfahrung als Therapeutin und Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie wisse sie, dass Therapeuten eine riesige Macht über diejenigen hätten, die sie begleiten. „Sie haben das auch“, sagte sie mit Blick auf die „Geistliche Begleitung“. Um Menschen dabei zur spirituellen Autonomie begleiten zu können, sei wichtig, Standards einzuhalten. „Der, der geistlich begleiten möchte, braucht auch selbst ein hohes Gleichgewicht und eine gute Psychohygiene“, sagte Kamps. Dazu zähle auch, eigene Grenzen der Begleitung zu kennen und sich einzugestehen, nicht immer zu wissen, was besser für den Begleiteten sei. „Ich möchte auch dazu ermutigen, schwierige ‚Fälle‘ abzugeben. Tun Sie sich das auch an. Geben Sie Fälle ab, die Sie zu sehr an Ihre eigene Geschichte erinnern oder Sie einfach überfordern.“ Die Begleitenden sollten zudem sehr vorsichtig mit Forderungen sein. Zu einer professionellen Begleitung gehöre auch eine regelmäßige Supervision und Intervision. Wichtig sei aber auch, sich fachliche Qualifikationen anzueignen: „Sie arbeiten mit der Seele.“ Deshalb müsse man wissen, was jemand erleide, der ein schlechtes Selbstwertgefühl bei bestehender Depression habe.
Förderung spiritueller Autonomie soll geistlichem Missbrauch vorbeugen
Dr. Hidegard Wustmans, Leiterin des Dezernates Pastorale Dienste im Bistum Limburg, wies darauf hin, dass es „massive Einschränkungen selbstbestimmten Handelns“ auch in Seelsorge-Kontexten gebe. „Dass wir heute darüber sprechen, verdanken wir den Überlebenden sexuellen Missbrauchs.“ Beide Formen von Missbrauch, spiritueller und sexueller Missbrauch, überlappten sich, nicht selten führe spiritueller Missbrauch auch zu sexuellem Missbrauch. Auch wenn es Unterschiede gebe, seien beide gleichermaßen zerstörerisch. „Betroffene finden ohne Hilfe von außen keinen Ausweg aus diesen ruinösen Beziehungen. Die Verarbeitungsprozesse brauchen viel Zeit.“ Das Bistum Limburg wolle das Thema „Spirituellen Missbrauch“ auch weiterhin bearbeiten, dazu solle auch eine Fachkraft eingestellt werden. „Die Förderung spiritueller Autonomie soll der Weg sein, missbräuchliche Vorgänge zu entlarven. Wir hoffen, dass wir aus dieser Tagung gemeinsame Erkenntnisse generieren und Menschen zu spiritueller Autonomie begleiten könnten“.
Neben den Vorträgen waren die Teilnehmenden zu verschiedenen Workshops eingeladen, bei der es unter anderem um Formen spiritueller Autonomie in der Bibel, im Gebetsleben, der geistlichen Begleitung von Menschen oder geistlicher Selbstreflexion ging. In Perspektivgruppen tauschten sich die Teilnehmenden auch über spirituelle Autonomie in verschiedenen kirchlichen Kontexten, etwa Pfarreien oder Ordensgemeinschaften aus. Bei der Tagung ging es auch darum, für das Thema in der Kirche zu sensibilisieren und Ansätze für eine Weiterarbeit zu entwickeln.